Im Blickpunkt| 28.05.2021

Bobos, Blaulicht und Blutgerinnsel

Im Notfallzentrum des Spitals Limmattal treffen Bagatellen auf lebensbedrohliche Fälle. Das richtige Agieren im von Tempo und Überraschungen getakteten Spannungsfeld erfordert von allen Beteiligten viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen – und nicht selten Nerven wie Drahtseile.

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Text von Flavian Cajacob

Beim Eingang fährt das Rettungsfahrzeug vor, in der Anmeldung taucht ein junger Mann mit Arm in der Schlinge auf, im Wartezimmer sitzen zwei junge Damen und starren auf ihr Smartphone. Im Notfallzentrum des Spitals Limmattal – umgangssprachlich «Notfall» – kommt zusammen, was in unser aller Alltag schiefgehen kann: Beinbruch, Nierenstein, Herzinfarkt. «Die Spanne der versorgten Fälle reicht von Heuschnupfen und eingeklemmten Fingern bis hin zum Schlaganfall», sagt Chefarzt Dr. med. Hans Matter. Rund 29’000 Patientinnen und Patienten behandeln der Leiter des Notfallzentrums und seine Kolleginnen und Kollegen jährlich – macht pro Tag um die 80. «Ob Bagatell- oder Ernstfall, es ist immer die Sorge um die eigene Gesundheit, welche die Leute zu uns führt.» Dementsprechend nimmt man sich den Anliegen mit der gebotenen Aufmerksamkeit an – egal, ob es sich nun um ein offensichtliches «Bobo» handelt oder um einen lebensbedrohlichen Zustand. «Wir urteilen nicht, wir helfen.»

Rasche Hilfe als Dienstleistung

Von den 29’000 Patientinnen und Patienten, die jährlich per Rettungsdienst im Spital Limmattal eingeliefert werden oder sich – was weitaus häufiger der Fall ist – selber ins Notfallzentrum begeben, kann gut die Hälfte direkt nach der medizinischen Versorgung wieder den Heimweg antreten. Bei rund 10’000 Patientinnen und Patienten sind weitere, aufwändigere Abklärungen notwendig, gegen 5900 werden letztlich hospitalisiert. «Nicht selten stellt sich erst im Laufe einer Konsultation heraus, wie gravierend ein vordergründig harmloses Problem eigentlich ist», betont Gabriela Schreiber, Leiterin der Notfallpflege. «Kopfschmerzen beispielsweise können vom Wetter oder von übermässigem Alkoholkonsum herrühren, sie liefern aber auch Hinweise auf eine mögliche Hirnblutung.» Umso wichtiger ist eine rasche und korrekte Einschätzung der Situation. «Wer im Notfallzentrum tätig ist, verfügt in der Regel über sehr viel fachliche und menschliche Erfahrung, das ist sicherlich eine Grundvoraussetzung, um diesen Job gut machen zu können», sagt Gabriela Schreiber überzeugt.

«Ob Bagatell- oder Ernstfall, es ist immer die Sorge um die eigene Gesundheit, welche die Leute zu uns führt»

Im Zuge der Entscheidung, ob eine Patientin oder ein Patient der Notfallstation oder der Notfallpraxis zugewiesen wird, kommt der sogenannten «Triage-Pflege» eine besondere Bedeutung bei. Sie ist häufig der erste Kontakt für die Hilfesuchenden und klärt umgehend auf Basis ihrer grossen Erfahrung und eines international gültigen Beurteilungssystems den Grad der Verletzung oder Erkrankung ab und entscheidet über die Dringlichkeit der weiteren Behandlung. «Die Pflegefachpersonen auf der Notfallstation sind mehrheitlich Allrounderinnen und mit einer hohen Kompetenz ausgestattet», erklärt Gabriela Schneider, «oft leiten sie erste Massnahmen ein, noch bevor eine Verordnung des Arztes vorliegt.» Bagatell- und leichte Fälle werden in der Regel an die interne Notfallpraxis verwiesen, welche das Spital Limmattal zusammen mit Hausärzten aus der Region betreibt. Schwere und akute sowie jene Fälle, die vom Rettungsdienst eingeliefert werden, kommen in den Notfall.

Dieser verfügt über ein Dutzend voneinander unabhängige Behandlungsräume, sogenannte Kojen. Ein grosser Bildschirm hält die Mitarbeitenden in der Leitstelle stets auf dem Laufenden darüber, welche Patientin oder welcher Patient mit welchem gesundheitlichen Problem in welchem Raum liegt und welche Behandlung am Laufen ist. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer sämtlicher Patientinnen und Patienten im Limmattaler Notfallzentrum beläuft sich auf 3 Stunden und 10 Minuten. Bei besonderen Bedürfnissen – etwa bei Kleinkindern oder komplexen Augen- und Ohrverletzungen – organisiert das Notfallzentrum darüber hinaus die weitere Behandlung durch einen niedergelassenen Spezialisten oder eine spezialisierte Klinik. «In der heutigen Zeit gehen medizinische Versorgung und Dienstleistungsgedanke Hand in Hand», führt Hans Matter aus, «die Bevölkerung erwartet diesen Service und mit dem Notfallzentrum können wir diesen Anspruch auch zuverlässig abdecken.»

Organisationstalente und Multitaskerinnen

Die Weichen zum heutigen «Notfall» im LIMMI wurden 2005 gestellt; viele der Mitarbeitenden sind denn auch seit Anfang an mit dabei. Was die Entwicklung der klinischen Notfallmedizin anbelangt, nimmt das Zentrum schweizweit eine führende Position ein, insbesondere im Aus- und Weiterbildungsbereich. Wie im gesamten Spital Limmattal liegt auch im Notfallzentrum ein grosses Augenmerk auf dem interdisziplinären, spartenübergreifenden Wirken. Nur wenn die verschiedenen Fachrichtungen Hand in Hand gehen, ist eine lückenlose und rasche Versorgung möglich. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Schlaganfallstation, der sogenannten «Stroke Unit», die in den Notfall integriert ist. Schnelles Handeln ist hier von absolut zentraler Bedeutung. «Es geht um Minuten», sagt Hans Matter, «wird jemand mit Verdacht auf einen Schlaganfall eingeliefert, steht umgehend ein Team von bis zu fünf Leuten bereit, alles andere muss vorderhand warten.» Selbst das nicht medizinisch geschulte Personal am Empfang des LIMMIS ist befähigt, Symptome einer Streifung sofort zu erkennen. «Es ist tatsächlich so, dass die Mehrheit der Leute nach einem Schlaganfall noch selber zum Spital fährt», weiss Gabriela Schreiber. Im Durchschnitt untersucht und behandelt die «Stroke Unit» täglich zwei bis drei Patienten, deren Symptome auf einen Schlaganfall hindeuten.

Mit der Eröffnung des «neuen» Spitals Limmattal vor gut zwei Jahren hat sich die infrastrukturelle und logistische Situation auch für das Notfallzentrum stark verbessert. Wege wurden kürzer, helle Räume sorgen für eine freundliche Atmosphäre, die Einrichtung gehört zu den modernsten ihrer Art im Lande. Wenngleich sich zu Spitzenzeiten – am späten Morgen, am frühen Abend und auf die Nacht hin – ein äusserst reger Betrieb einstellt und vielleicht drei Ambulanzen zeitgleich eintreffen: Hektik wolle man stets vermeiden, bemerkt Hans Matter. Ein Augenschein an einem frühen Freitagabend liefert einen eindrücklichen Beleg dieses Credos. Selbst die Tatsache, dass die Corona-Pandemie und die damit verknüpften Schutzmassnahmen die Arbeit erschweren, die Umstände einer Verletzung nicht immer klar sind und häufig sprachliche Verständigungsprobleme hinzukommen, bringt die Pflegefachpersonen, die Ärztinnen und Ärzte nicht davon ab, zielführend, sicher und stets freundlich zu agieren.

«Auch wenn es manchmal schnell gehen muss, eines unserer wichtigsten Werkzeuge ist die Empathie.»

Egal, ob ein amputierter Daumen, Herzrasen, starke Bauchschmerzen oder ein von der Ambulanz eingelieferter Verdacht auf Covid-19 behandelt werden soll. «Das bedingt von uns allen ein gewisses Organisationstalent, die Fähigkeit zur Teamarbeit, zum Multitasking und natürlich gute Nerven», hält Hans Matter fest. Wichtig sei, dass Patientinnen und Patienten rasch darüber informiert würden, wie und wann sie mit einer Behandlung rechnen könnte. Auch sei es durchaus Usus, dass bereits im Wartezimmer beispielsweise Blut entnommen werde oder ein Arzt kurz vorbeischaue. «Aber», so Matter, «im Notfall ist Vorhersehbarkeit ein Fremdwort. Wenn also ein Herzinfarkt eingeliefert wird, dann müssen wir uns zuerst um diesen kümmern, nicht um die Halsschmerzen, die seit einer halben Stunde im Wartezimmer sitzen.»

«Wie lange dauert es noch?»

Die häufigste Frage, welche im Notfall gestellt wird, ist denn auch: «Wie lange dauert es noch?» Grundsätzlich sei das Verständnis bei den Patientinnen und Patienten dafür zwar vorhanden, dass lebensbedrohliche Vorfälle prioritär behandelt würden, hält Gabriela Schreiber fest. Aber: «Die Erwartungshaltung ist in den letzten Jahren schon gestiegen, der Geduldsfaden reisst heute schneller.»

Dass dem so sei, habe nicht immer mit der Patientin oder dem Patienten direkt zu tun. Das Internet, die modernen Technologien, unsere Lebensumstände generell aber auch die Arbeitssituation im Speziellen setzten stete Verfügbarkeit und umgehende Problemlösungen voraus – und das rund um die Uhr. «Wenn jemand drei Tage warten muss, bis er einen Termin beim Hausarzt bekommt oder der Chef dahingehend Druck macht, dann wendet er sich halt umgehend an den Notfall und will je nach Veranlagung sofort an der Reihe sein.»

24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr: für die Pflegefachpersonen und die Ärzteschaft im Notfallzentrum des LIMMIS ist kein Tag wie der andere. «Genau das macht es so spannend», meint Hans Matter. Gleichzeitig streicht er aber auch hervor, dass es gerade für Neueinsteiger nicht immer einfach ist, mit dem Druck umzugehen, Entscheidungen oftmals binnen kürzester Zeit und auf Basis einer unklaren Faktenlage fällen zu müssen, die letztlich gravierende Konsequenzen nach sich ziehen können. «Man kann bis zu einem gewissen Punkt reinwachsen, wir lernen ständig dazu und führen Schulungen durch. Letztendlich kommt es jedoch sehr stark auf die Persönlichkeit an», so der langjährige Notfallmediziner. Sowohl für ihn wie auch für Gabriela Schreiber und die übrigen Mitarbeitenden im Notfallzentrum ist es von zentraler Bedeutung, dass trotz Druck, Unklarheiten und unterschiedlicher Dringlichkeit eines Falles stets der Mensch im Zentrum des Wirkens steht. «Auch wenn es manchmal schnell gehen muss, ist eines unserer wichtigsten Werkzeuge die Empathie», betont Gabriela Schreiber. Denn Einfühlungsvermögen und Mitgefühl schaffen letztlich Vertrauen. «Und wenn Sie als Patientin oder Patient ihr Leben jemand Unbekanntem anvertrauen, ist Vertrauen unabdingbar.»

Das Rettungsfahrzeug vor dem Eingang des Notfallzentrums ist verschwunden. Der junge Mann, dem eine rasante Fahrradfahrt zum Verhängnis geworden war, kann seine Koje – den Arm im Gips – wieder verlassen. Die jungen Frauen haben ihre Konsultation in der Notfallpraxis hinter sich. Der grosse Bildschirm in der Leitstelle, auf dem die aktuellen Fälle aufgeführt sind, leert sich langsam. Freitagnacht bricht an und damit das Wochenende. «Jetzt ist es verdächtig ruhig, doch das wird sich schlagartig ändern, irgendwann, garantiert», sagt Hans Matter, während er am Computer Dienstpläne schreibt. «Natürlich, im Winter behandeln wir mehr Brüche, im Frühling tauchen häufiger Asthmatiker bei uns auf und seit einem Jahr sind Covid-19-Fälle ein Dauerthema – aber vorhersagen, wann wer womit zu uns kommt, das können wir schlicht nicht.» Seine Schicht wird der Leiter des Notfallzentrums gegen Mitternacht beenden. Was ein «gelungener» Arbeitstag sei? «Die Sinnhaftigkeit unseres Tuns ist ja grundsätzlich schon gegeben», sagt Hans Matter. Er überlegt kurz und meint dann, man sei hier schliesslich nicht bei Dr. House, Grey’s Anatomy oder einer anderen Spital-Serie. «Die Gesamtheit zählt. Wenn am Ende des Tages jede Patientin und jeder Patient gut versorgt worden ist, egal, ob es sich um einen Ernstfall handelt oder um eine Bagatelle, dann ist mir das viel wichtiger als eine einzelne heroische Tat.»

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