Ratgeber| 30.05.2022

Viele MS-Patientinnen und -Patienten sitzen nicht im Rollstuhl

Heute ist Welt-MS-Tag. Guido Schwegler Naumburger, Leiter der Neurologie im Spital Limmattal, sagt im Interview, welches Halbwissen zur Multiplen Sklerose in der Bevölkerung kursiert und wie Patientinnen und Patienten am besten geholfen werden kann.

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Interview von Limmattaler Zeitung

Heute ist Multiple-Sklerose-Tag. Weshalb ist ein solcher Tag so wichtig?

Guido Schwegler Naumburger: Ich bin da ein wenig ambivalent. Einerseits ist es ausserordentlich wichtig, die Krankheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, da viele falsche Meinungen darüber bestehen. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass an diesem Tag Halbwissen über die Krankheit in Umlauf gebracht wird.

Woran denken Sie dabei konkret?

Beispielsweise werden in Broschüren oder Werbungen betroffene Menschen oftmals in Rollstühlen abgebildet. Dabei sitzen viele MS-Patientinnen und -Patienten nicht im Rollstuhl. Man muss also aufpassen, dass man die Krankheit der Schwerbetroffenen würdigt, gleichzeitig aber bei den leicht Betroffenen keine Ängste schürt.

Welches Halbwissen ist sonst noch im Umlauf?

Die meisten wissen nicht, dass es bei MS zwei Varianten gibt. Es gibt eine chronisch progrediente Erkrankung. Diese betrifft vor allem ältere Menschen und man kann sie verlangsamen, aber nicht stoppen. Dann gibt es die deutlich häufiger auftretende, schubförmige MS. Diese betrifft doppelt so viele Frauen wie Männer. Die schubförmige MS verläuft fast immer gut, wenn sich die Betroffenen früh einer Immuntherapie unterziehen.

Was verstehen Sie unter «gut» bei einer unheilbaren Krankheit?

Die Patientinnen und Patienten können trotz MS ein normales Leben mit Sport, Familie und Karriere führen. 80 Prozent der Personen mit schubförmiger MS, die in meiner Sprechstunde sind, sieht man die Erkrankung nicht an.

Was sind erste Krankheitsanzeichen, auf die man achten sollte?

Häufigste erste Anzeichen von MS sind Gefühlsstörungen, die mehr als 24 Stunden grossflächig spürbar sind. Diese betreffen beispielsweise beide Beine oder eine Körperhälfte. Auch eine markante Sehverminderung auf einem Auge innert weniger Tage kann ein Anzeichen sein. Treten solche Symptome auf, sollte man zum Arzt gehen.

Sie erwähnten, dass Frauen häufiger betroffen sind. Wer hat sonst noch ein erhöhtes Risiko?

MS ist keine klassische Erbkrankheit. Das Risiko, an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, ist aber bei engen Verwandten erhöht. Auch Umwelteinflüsse sind wichtig. Es gibt bestimmte Regionen, in denen die Krankheit häufiger vertreten ist. Diese Regionen decken sich mit den Regionen, in denen das Pfeiffersche Drüsenfieber verbreitet ist. So merkte man auch, dass Menschen, die das Pfeiffersche Drüsenfieber in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter hatten, später eher an MS erkranken.

«Die Krankheit hat einen sehr schlechten Ruf, weil man früher nichts dagegen tun konnte.»


Ist das Limmattal eine Region, in der Multiple Sklerose verbreitet ist?

Die ganze Schweiz ist eine solche Region. Im Limmattal haben wir rund 150 bis 200 Patientinnen und Patienten. 

Im Spital Limmattal haben Sie sogar eine spezielle MS-Sprechstunde.

Ja, wir haben eine grosse, überregionale MS-Sprechstunde, in der wir rund 250 Patientinnen und Patienten betreuen.

Wie kam es dazu?

Als vor 25 Jahren die ersten Medikamente gegen MS auf den Markt kamen, begann ich mich als junger Assistenzarzt intensiv mit dieser Krankheit zu befassen. In der Neurologie, meinem Fachgebiet, sind viele Krankheiten nicht behandelbar. MS ist da eine Ausnahme. Da es viele Betroffene gibt und die Medikamente noch sehr teuer sind, forscht auch die Pharmabranche nach wie vor intensiv an MS. So stehen wir heute an einem ganz anderen Punkt als vor 20 Jahren. Und ich erwarte auch in den nächsten Jahren viele neue Erkenntnisse.

Können Sie ein Beispiel dazu geben?

Ja, ich denke, man wird in Zukunft noch mehr über die Entstehung der Krankheit wissen. Das wäre wichtig, um MS gezielter und mit weniger Nebenwirkungen zu behandeln.

Was ist trotz all dieser Hoffnungen die Herausforderung für Multiple-Sklerose-Patienten?

Das Problem ist eher die psychische Belastung. Die Krankheit hat einen sehr schlechten Ruf, weil man früher nichts dagegen tun konnte. Die Diagnose Multiple Sklerose ist für die meisten Betroffenen ein Schock. Sie brauchen Zeit, um dem Körper wieder zu vertrauen.

Welches Patienten-Beispiel haben Sie dabei vor Augen?

Eine meiner Patientinnen erkrankte mit 16 Jahren an MS. Trotz Medikamenten litt sie immer wieder an Krankheitsschüben. Später wollte sie schwanger werden, deshalb stellten wir die Therapie auf eine Antikörpertherapie um. Danach hatte sie keine Schübe mehr und die Verlaufsbilder ihres Kopfes waren normal. Sie wurde schwanger und hat nun zwei gesunde Kinder. Das ist keine Ausnahme. Wir haben viele Patientinnen, die eine Familie gründen.

Worauf müssen Ihre Patientinnen und Patienten dabei achten?

95 Prozent der Patientinnen und Patienten müssen Medikamente nehmen, ansonsten müssen sie auf nichts achten. Das Schlimmste, das man tun kann, ist, die Patientinnen und Patienten einzuschränken, indem man sie beispielsweise dazu anhält, keinen Stress zu haben, keine Kinder zu zeugen oder auf die Ernährung zu achten. Das ist alles Quatsch.

Wie sieht der Verlauf bei der chronisch progredienten MS aus?

Dabei kommt es zu einer langsamen Verschlechterung der Gehfähigkeit bis hin zum Verlust des freien Gehens. Das Fortschreiten der Krankheit kann man dabei nicht verhindern, man kann es nur verlangsamen. Diese Form der MS ist aber viel seltener als die schubförmige MS, das Verhältnis steht bei 15 zu 85 Prozent.

Wie sollten sich Angehörige oder Freunde von MS-Patienten verhalten?

Man sollte die Krankheit und ihre Symptome weder bagatellisieren noch dramatisieren. MS-Patientinnen und -Patienten sollen von Leuten mit einer positiven Einstellung gegenüber der Krankheit umgeben sein, die mit einer guten Prognose rechnen.


Dieser Artikel wurde am 30. Mai 2022 in der Limmattaler Zeitung publiziert.

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